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Einleitung
»Zweiundsiebzig Genozide haben wir
bis jetzt überlebt.
«
»Zweiundsiebzig Mal haben unsere
Feinde versucht uns gänzlich auszurotten und wir haben alle
überlebt. «
So, die
Standardantwort von Êzîdî, wenn man sie danach fragt.
Wie
viele Genozide hat die gesamte Menschheit in ihre Geschichte
erlebt?
In der
Geschichte haben sich Menschen, Völker, Religionsgemeinschaften,
seit Menschengedenken und je nach Stärke und Laune der
Zeitgeschichte gegenseitig verfolgt. Viele Propheten sind
gesandt worden. Und fast alle haben verkündet, dass Gott (der
Schöpfer) es nicht will, wenn sich die Menschen bekriegen. Fast
jeder Mensch hat daraufhin geschworen, Gott zu gehorchen und
alle haben ihr Versprechen gebrochen.
Nicht
selten sind die Propheten selber zu Vertriebenen, Verjagten
geworden. Und nicht selten wurden auch sie auf bestialische Art
umgebracht.
Auch
Gott hat nicht immer schweigend zugeschaut und ist dabei auch
nicht immer untätig geblieben. Als Erinnerung sind seine Strafen
auch in den „heiligen Büchern“ verschiedener Religionen
niedergeschrieben, bis in unserer Zeit erhalten geblieben.
Beispiel die Städte Sodom und Gomorra, die Sintflut, und
nicht zuletzt die Kreuzigung seines Propheten Jesus (für seine
Anhänger gilt Jesus als Sohn Gottes, der auch sein Platz
eingenommen habe und irgendwann wieder kommen wird um sein
„ewiges Reich“ auf der Erde zu gründen, damit das Böse für immer
von ihr verbannt wird und bleibt). Aber bis dahin werden noch
Hunderte, Tausende, Millionen Menschen umgebracht, beraubt,
geschändet, verfolgt und aus ihren ursprünglichen Heimatländern,
aus ihren Wohnungen, aus Haus und Hof verjagt werden, damit
andere sich an ihren Besitztümern bereichern und sich in ihren
Heimen bequem machen können.
Irgendwann trifft es jedes Volk und nicht selten auch jeden
Menschen. Es ist wie die Sintflut, keiner kann davon unberührt
bleiben. Manche als Opfer und die Anderen als Täter und ein
anderes Mal wechseln sich die Rollen. Fast immer denken die
Opfer an die Rache für das was ihnen angetan wurde und
vielleicht angetan werden könnte. Auch wenn der Mensch es am
eigenen Leib erfahren haben sollte, wie grausam und schmerzhaft
es ist Jemandem zu schaden, wird er/ sie nie aufhören können
nach der Rache zu trachten. An Vergebung, wie einst dem Schöpfer
versprochen wurde, will niemand in der Euphorie des Rachegefühls
denken. Er nimmt auch bewusst in Kauf, dabei auch anderen
Unschuldigen zu schaden, wenn damit die Wut zerstörerisch
eingesetzt werden kann. Das war vor Tausenden von Jahren, ja vor
Millionen von Jahren so und wird auch in Zukunft so bleiben,
weil wir Menschen uns an unser Versprechen zu Gott nicht halten
können und dies auch nicht wollen.
Die
Waffen, die auf dieser Erde existieren sind von Menschenhand und
Sie sind grausam und zerstörerisch und werden immer grausamer
und zerstörerischer. Man kann damit immer mehr unschuldiges
Leben, ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht, „auf einen
Schlag auslöschen“. – Wen kümmert es, Wen und Was die
tonnenschweren Bomben, die wie Regenschauer aus der Himmel
flächendeckend auf dem Boden niederkommen und mit ihrer
Zerstörungskraft alles auf dem Boden vernichten und alles
niederreißen, treffen? Ob sie Menschen oder auch Tiere töten,
das wollen die Kriegsherren dieser Welt nicht wissen. Hauptsache
die Waffen werden unermüdlich weiterentwickelt, um damit noch
mehr Leben auf einen Schlag auslöschen zu können. Man denke an
beide japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki. Diese beiden
Städte Japans sind von den Amerikaner am 06. und 09. August 1945
aus der Luft mit je einer neu erfundenen Bombe aus der Luft
bombardiert worden, die nichts weiter als je eine Atombombe
waren. Dabei wurden über 130.000 Menschenleben in wenigen
Stunden ausgelöscht – wie bereits angedeutet wir zählen nur
getötete Menschen und nicht die Tiere, sie bleiben
unberücksichtigt. Die Tiere können sich bei uns Menschen über
ihre Verluste nicht beklagen.
Ähnliches hat sich seit dem in zig anderen Orten und in
unterschiedlichen Formen wiederholt. Nur die Resonanz wurde von
Menschen anders aufgenommen, vielleicht, weil die Waffen nicht
mehr neue Erfindungen waren.
Man
denke hierbei an die kurdische Stadt Halabja, die am 16. März
1988 von den irakischen Flugzeugen mit Giftgasbomben bombardiert
wurde. Dabei mussten ofziel mehr als 5000 (andere Quellen 7000)
Menschen ihr Leben lassen.
Auch
Abraham, der bereit war seinen geliebten Sohn für den einzigen
Gott zu opfern, konnte die Mordsucht der Menschen nicht beenden,
denn er konnte schlecht die Menschen davon überzeugen, dass das
Töten Sünde sei, schließlich wollte auch er seinen eigenen Sohn
für seine Ideale schlachten (Schächten). Noch heute werden Jahr
für Jahr zum Andenken an Abraham und dem misslungenen Versuch,
sein geliebten Sohn zu töten, der nur durch einen Kompromiss,
einer Art Deal zwischen Mensch und Gott, gerettet werden konnte
und damit auch die Erinnerung daran bei den Menschen immer
frisch bleibt, Tiere geopfert. Das jährliche Opferfest der
Moslem erinnert daran. Auch die Êzîdî feiern das Opferfest, das
bei ihnen Pilgerfest genannt wird. Und auch bei ihnen wird an
Abraham und seinen Sohn erinnert.
Auch
Moses besaß dazu nicht genügend Überzeugungskraft, denn auch er
und sein Gott haben in Ägypten das Leben unzähliger
Erstgeborener genommen, und damit vielen Eltern Schmerzen
zugefügt, nur um den Pharao zu beweisen, dass auch Gott die
Befreiung von dem “auserwählten Volk“ will. Er ließ auch zu,
dass seine Verfolger samt Zug- und Reittiere vom Meer
verschlungen werden.
Auch
Jesus nicht, schließlich hat sein „eigener Vater“ zugelassen,
dass er von Menschen auf grausamste Weise gekreuzigt (ermordet)
wird.
Und
schließlich auch Mohammed nicht, weil auch er das Leben von
unzähligen Menschen mit seiner Schwertklinge ausgelöscht hat.
Unzählige Menschen, die in den Augen Mohammeds und seiner
Krieger „ungläubige“ waren, flüchteten, meist nur um ihre
nackte Leben zu retten.
Die
Propheten sind also selber gewalttätig gewesen und sind auch
selber, wie ihre Jünger oftmals Opfer geworden.
Warum
sollten denn die zukünftigen Jünger und ihre Anhänger anders
sein?
Auch
Gott stellte seine Auserwählten vor sehr harte, für normale
Menschen unlösbare, Prüfungen, um sicher zu sein, dass diese ihm
treu sind und unter allen Umständen auch treu bleiben. Er musste
sie harten Prüfungen unterziehen, wie z. B. ohne Wasser und
Lebensmittel die Wüsten durchwandern u. a., um sie in ihrem
Glauben an ihn zu festigen. Damit sie seine Anweisungen nicht
missachten. Aber er hat bis heute nicht geschafft einen
perfekten Menschen zu schaffen, der bereit ist sich von ihm
lenken zu lassen. Man kann daraus folgernd sagen: er traut
selber seiner Schöpfung nicht, weil diese unberechenbar ist.
Auch die
Erkenntnis darüber, dass jeder der durch die Geburt das Licht
des Lebens erblickt durch den Tod das Ende seines Lebensweges
finden wird, kann die Menschen davor nicht bewahren, einander,
den Weg des Todes zu verkürzen. Solange dies der Fall ist und
bleibt, wird es auch Flüchtlinge geben, die auf der
Erdoberfläche umher wandern, nur um ein paar Jahre länger zu
leben.
Zum Buch
Die
Êzîdî pflegen zu sagen:
»Zimanê
şêrîn bihara Dilaya.«
Das
heißt, wortwörtlich: Die süße Zunge ist der Frühling für die
Herzen.
Ich muss
bei jedem Satz, den ich schreiben will, an diese Weisheit, die
gleichzeitig eine Warnung ist, denken, welche mir bereits mit in
die Wiege gelegt worden ist. Ich kann nicht ein einziges Wort
schreiben ohne dabei selber Schmerzen zu empfinden und ohne
gleichzeitig Angst zu haben, dass ich vielleicht deswegen Ärger
bekommen könnte, weil die Wahrheit bekanntlich schmerzhaft ist
und bitter schmeckt und deshalb nicht jedem gefällt, dem sie
erzählt wird.
Viele
sind bereit die Wahrheit zu hören, aber nur wenige sind bereit
sie aufzunehmen geschweige in ihrem Herzen aufzuarbeiten. Wer
möchte an unangenehme Dinge erinnert werden, sei es als Täter,
oder auch als Mörder. Welcher Mörder würde sich freuen, wenn
seine Untat in jedem Detail, jedem bekannt gemacht wird? Und
welche vergewaltigte Frau wäre froh darüber, wenn jeder wüsste
was sie erlebt hat?
Es ist
völlig richtig, wenn es gesagt wird dass einzelne Personen all
das Elend auf dieser Erde nicht abschaffen können, aber es ist
auch richtig, dass man die Hoffnung daran nicht verlieren darf.
Wir
wissen es heute besser, dass z. B. Oscar Schindler den zweiten
Weltkrieg nicht verhindern konnte und auch die Nazis daran nicht
hindern konnte den Völkermord an den Juden, Sinti und Roma,
Andersdenkenden und Andersaussehenden zu verüben. Aber er hat
etwas geleistet was in seiner Zeit keinem anderen gelungen ist.
Vielleicht weil niemand außer ihm es versucht hat? Er hat mehr
als Tausend verhasste und verfolgte Menschenleben gerettet. Das
soll auch in Zukunft alle Menschenfreunde als Beispiel dienen
und jedem nur Mut machen.
Ich
möchte mit diesem Buch zwei Zielgruppen erreichen. Erstens, die
Deutschen, die sich für die Êzîdî interessieren und sich für
ihre Vergangenheit interessieren und sich mit ihrer Zukunft
befassen wollen. Ich möchte es Jedem leichter machen die Êzîdî
besser zu verstehen.
Mein
innigster Wunsch ist zu verhindern, dass keine ungewollten
Missverständnisse zwischen ihnen entstehen. Also, eine Grundlage
schaffen für das Miteinander und nicht für das Gegeneinander.
Vor allem möchte ich mich an die Êzîdî selber richten und zwar
an die Jüngeren unter ihnen, die zwischen verschiedene Kulturen
hin und her gezerrt werden. Sie beklagen sich sehr häufig und
offen darüber, dass ihnen keine schriftlichen Informationen zur
Verfügung stehen, um selber sich mit ihrer eigenen Vergangenheit
bzw. die Vergangenheit ihrer Vorfahren auseinander zu setzen.
Es gibt
mittlerweile eine Fülle von Büchern und Informationsquellen, in
verschiedenen Sprachen: kurdisch, türkisch, deutsch, englisch,
französisch u. s. w. über die Êzîdî. Nicht alle geben die wahre
ezidische Religion und das Leiden, das ihnen wegen dieser
Religion zugefügt wurde, wieder. Manche sind auch gegen sie
gerichtet, aber trotzdem ist jede Information über diese
Religionsgemeinschaft und ihre schmerzliche Geschichte eine
große Bereicherung. Ich möchte mich nicht mit jedem Buch, das
bereits über die Êzîdî geschrieben ist befassen und werde auch
nicht versuchen die darin geschriebenen Fehler zu korrigieren.
Ich weiß auch nicht, aus welchen Gründen die Autoren die Fehler
begangen haben, darum sehe ich mich auch dazu nicht berechtigt
sie zu kritisieren bzw. zu korrigieren.
Ich habe
das Siedlungsgebiet der Êzîden von Tur Abdin als Beispiel
gewählt, um anhand von Beispielen ihre Unterdrückung durch die
Axas und anderen muslimischen Nachbarn zu beschreiben. Man
könnte auch andere Siedlungsgebiete nehmen, weil die Geschichten
und die Vorgehensweisen sich nur unwesentlich von einander
unterscheiden. Häufig sind nur die Namen der Täter und die der
Opfer anders, sonst ist alles andere fast identisch.
Die
Entscheidung für das Siedlungsgebiet von Tur Abdin ist mir auch
deshalb leichter gefallen, weil ich selber von dort komme und
noch Kontakt zu den älteren Menschen aus dieser Gegend habe, die
ich bei meinen Recherchen um Informationen um Hilfe bitten
konnte. Ich habe hierbei großes Glück, dass auch in meiner
Verwandtschaft noch Personen leben, die sich an jeden Einzelfall
erinnern, weil sie auch Zeitzeugen sind. Beispielsweise einer
von ihnen ist über Hundert Jahre alt und kann sich an alles
erinnern, was er selber miterlebt hat bzw. seinen Zeitgenossen
passiert ist. Auch an das, was seine Eltern ihm erzählt haben
kann er sich noch recht gut erinnern.
Zu
meinem Bedauern können diese Zeugen sich nicht erinnern, in
welchem Jahr was geschah. Aber ich lege viel wert darauf, dass
diese Leiden, die man ihnen und ihren Ahnen zugefügt hat und
noch fügt, nicht in Vergessenheit gerät. Natürlich lege ich viel
Wert darauf alles gründlich darzulegen, aber wenn dies nicht
möglich ist, dann darf diese kleine Versäumnis auch kein
Hindernis dafür sein das Verbrechen beim Namen zu nennen und ihr
wahres Gesicht aufzuzeigen. Es ist letztendlich auch für die
Opfer nicht wichtig, wann sie geschändet wurden, sondern es ist
für sie häufig nur sehr schmerzhaft daran noch einmal erinnert
zu werden.
Ich
werde auch nicht versuchen, den gesamten Inhalt der ezidischen
Religion wiederzugeben. Das hat auch seine Gründe. Erstens, weil
ich selber nicht mit jeder Einzelheit vertraut bin, und
zweitens, das soll auch kein Theologiebuch der Êzîdî werden. Ich
bitte in dieser Hinsicht um Verständnis.
Ich
werde auch keine Theorien über die Zahl der Êzîden anstellen,
weil es noch keine weltweit durchgeführte Volkszählung von Êzîdî
gegeben hat und deshalb alle genanten Zahlen nur theoretische
Schätzungen sind und keine Aussagekraft haben.
Dank sagung
Bei
dieser Gelegenheit möchte ich meinen persönlichen Dank an
manche Personen, die von der ersten Stunde bis zum heutigen Tag
den Êzîdî zur Seite standen, richten. Zumal nicht zuletzt ihnen
zu verdanken ist, dass ich diese Möglichkeit bekommen habe, um
ein Teil der Geschichte meiner Vorfahren in ihrer Sprache
aufzuarbeiten. Das wichtigste für mich als Êzîdî ist, dass ich
das tun darf. Das war für uns Êzîden bis jetzt selten möglich
gewesen.
Dr.
Gernot Wiesner und seine Frau Irina Wiesner in Göttingen, das
Ehepaar Werner und Gisela Prieß (Pastoren in Hannover), Pastor
Christian Stolze (Sozialpfarrer in Bielefeld a. D.), Dr. Herbert
Schnoor (NRW-Innenminister a. D.), Werner Deckmann (Anwalt in
Hannover), Burkhard Gleisberg (Sozialarbeiter von der
Mathäusgemeinde in Bielefeld) und alle anderen Mitglieder dieser
Gemeinde, die uns nicht nur in der schwierigsten Stunde unserer
Geschichte moralisch unterstützt haben, sondern auch darüber
hinaus ihre Tore für uns weit geöffnet haben und bereit waren
uns jeder Zeit zu helfen, wenn es nötig wäre. Diese Gemeinde hat
uns ihre eigenen Räume zur Verfügung gestellt, damit wir in
einer uns fremden Welt leichter Fuß fassen können, und damit wir
in Ruhe nach eigenen Wegen suchen können. Das nenne ich wahre
gegenseitige Toleranz und Nächstenliebe.
Brita
Junemann (Studentin und NRW-Flüchtlingsrat Sprecherin in
Bielefeld), Dr. Alexander Sporr in Berlin, der im Auftrag des
Gesellschaft für bedrohte Völker ein wichtiges und umfassendes
Gutachten über die Êzîdî geschrieben hat und nicht zuletzt auch
alle anderen Mitgliedern und Mitarbeiter von Gesellschaft für
bedrohte Völker in Göttingen. Ich fühle mich persönlich auch
alle anderen, die mir nicht namentlich bekannt sind, aber
ebenfalls beispielhaft für die Rechte der Êzîdî und für ein
Bleiberecht derselben in Deutschland gekämpft haben, einen
unendlichen Dankaussagung schuldig. Natürlich gibt es noch viele
Privatpersonen und Institutionen, die sich ebenfalls, je nach
ihre Möglichkeiten, für die Sache der Êzîdî und auch anderen
unterdrückten Menschen eingesetzt haben und immer noch
einsetzen. Auch ihnen allen gebührt mein Dank.
Ich
hoffe, dass dieses Buch eine gute und wichtige Quelle für
diejenigen wird, die auf der Suche nach Grundinformationen über
die Êzîdî sind.
Lage,
von 25. März 2001
Ferhun
Kurt
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