Kapitel Eins


 

Das Kastensystem


 

Wenn ich hier das Wort „Kaste“ benutze, darf man das dennoch nicht mit dem Kastensystem gleichsetzen, das z. B. in Indien praktiziert wird. Dort herrscht ein Klassensystem, wonach je tiefer die Kaste desto niedriger die Würde der Angehörige ist und die Menschen auch dementsprechend behandelt werden.

Bei den Êzîdî ist es nicht so. Hier sind die Menschen einander gleichgestellt. Alle müssen einander achten und respektieren, weil alle Menschen vor Gott ebenfalls gleich sind. 

Die Êzîdî sind in drei religiöse Kasten geteilt, in zwei Priesterkasten (Şêx und Pîr) und eine Laienkaste (Mirîd genannt). Die Şêx sind wiederum in drei Gruppen: Qatanî, Adanî und Şemsanî, geteilt. Als Außenstehender sieht es aus, dass die drei Gruppen von Şêx mit der Pîrkaste zusammen vier Kasten sind. Dabei stellt man die drei Gruppen von Şêx mit je einer Kaste gleich.

Das Wort Şemsanî kommt von "Şems" oder "Şams" auch „Şamş“ genant. Also, das heißt die Sonnenanbeter bzw. die Sonne. Şemsanî ist auch vermutlich eine alte Religionsbezeichnung von Êzîdî. Das bedeutet „die Sonnenanbeter“. Die Mehrheit der Êzîdî nennt sich immer noch Şemsanî, damit betonen sie ihre Kastenzugehörigkeit und nicht – zuminderst nicht bewüst - ihre alten religiöse Wurzeln.

Mîrê Şêxa ist das weltliche Oberhaupt der Êzîdî. In unserer Zeit hat Mîr Tahsin Beg dieses Amt inne. Nach ihm kommt das geistliche Oberhaut Bavê Şêx bzw. Şêxê Mergehê, auch Extîyarê Mergehê genannt,  dieser wird nur aus der Gruppe Şêxê Melek Fexreddîn gewählt. Şêx Xetoê Şêx Hacî hat zu Zeit dieses Amt inne.

Mîrê Şêxa ist berechtigt den Inhaber dieses Amtes zu benennen und ihn auch abzusetzen. Wobei er sich in der Praxis an den Rat seiner Untertanen hält. Es bedarf jedoch der Zustimmung beider, wenn eine religiöse Entscheidung getroffen wird, die alle Êzîdî betrifft. Zum Beispiel, wenn darüber entschieden wird, ob ein Verbot bzw. Gebot aufgehoben wird oder welche neu dazugenommen werden. Nur er, der Mîr alleine, ist berechtigt Erlaubnis für die jährlichen Reisen der Qewwal in die Êzîdî- Distrikte zu erteilen. Er benennt die Micêwir (Wächter der heiligen Stätten). Er kann die Summe vom Next (Brautgeld) festlegen. Er ist der Wegweiser und Beschützer der Gläubigen.

Die Êzîdî haben weltweit nur einen Mîrê Şêxa, aber weil auch in seiner Familie immer wieder Verwandte ihm dieses Amt streitig machen wollen, versuchen sie die Zerstreuung der Êzîdî auszunutzen, um sich selber zu krönen. Solch einer war Mîr Muawî bin Îsmaîl, der sich selber gerne Oberhaupt aller Êzîdî und Zarathustrier nannte. „Wie der Vater so der Sohn.“ Auch sein Sohn Anwer versucht zu Zeit, nach dem Tode seines Vaters  dem Beispiel zu folgen.

Die Kaste der Şêx gibt es seitdem die ursprüngliche Religion der Êzîdî von Şêx Adî (gestorben 1162, nach anderen Quellen: 1165 bzw. 1169) reformiert worden ist. Es gibt sieben einzelne Gruppen der Şêx, die wiederum in andere Nebengruppen geteilt sind. Alle Gruppen vereinen sich wieder in die drei Hauptgruppen: Adanî, Qatanî und Şemsanî. 

Der Zahl nach verkörpern bzw. vertreten diese Şêx die sieben Engel auf der Erde. Sie haben auch bestimmte religiöse Aufgaben, für die sie alleine zuständig sind, z.B. für den ersten Haarschnitt von Knaben (Bissk) und die Trauung von Ehepartnern sind sie alleine zuständig. Bei den Todeszeremonien übernehmen sie einen großen Teil der Aufgaben, wie spirituelle Waschungen von Verstorbenen und die dabei gesprochen Gebete. Sie bilden auch die Führungsschicht der Êzîdî, aus der Gruppe von Şêxê Melek Fexreddîn wird das geistliche Oberhaupt aller Êzîdî bestimmt: Bavê Şêx auch Şêxê Mergehê bzw. Extîyarê Mergehê genannt. Er residierte früher in Baedirê, hier ist auch sein Hauptsitz gewesen. Das hat sich mittlerweile geändert und momentan residiert er in Eisifnê. Aus den Reihen von Şêx Hesen und Şêxê Şerfêdîn werden Peşîmame bestimmt.

Extîyarê Baahzanê und Başika werden gewählt aus der Gruppe, die Koçek heißt. Ihr Amt ist erblich. Sie gehören der Ratsversammlung von Extîyarê Mergehê (Bavê Şêx) an.   

 

 

Nach der Şêxkaste kommen die „Pîr“. Manche sind der Meinung, dass die Kaste der Pîr vor der Şêx-Kaste steht, weil sie auch älter ist. Die Pîr fühlen sich in der Ausübung ihrer Pflichten von den Şêx bedrängt.

Das Wort  „Pîr“ heißt sinngemäß „konstruktiver Meister“. Sie bilden die zweithöchste Priesterkaste. Die Pîr  waren auch vor der großen und – offiziell - letzten Reformation seit 1162 von Şêx Adî Priester dieser alten  Religion. Ihre Aufgaben sind, den Şêx bei der Waschung von Toten behilflich zu sein, über die Sitten der Religionsangehörigen zu wachen u. s. w. Sie sind darüber hinaus häufig auch begnadete Sänger, Meister in der traditionalen Musik.

Die Pîr sind in Gruppen geteilt und zwar in 41 Gruppen. Die oberste Gruppe ist die von Pîrê Hesen Memana. Die anderen vierzig Gruppen stehen unter dieser Gruppe. - Dr. Khalil Jindy führt in seinem Buch vierundfünfzig Namen auf und mir ist eine Liste mit vierzig Namen von Herrn Rêzan Hesen (Redakteur bei dem kurdischen Fernsehsender K.T.V. Bernama Çira in Duhok / Irak) zugeschickt worden, in dem noch weitere Namen erwähnt werden. Es ist sicherlich noch zu klären, ob jeder Name, der von Dr. Jindy aufgeführt wird, für eine Gruppe steht, oder ob manche von ihnen zusammengehören.

 Wegen der strengen Heiratsregelung ist die Gruppe von Pîrê Hesen Memana zahlenmäßig sehr klein und auch vom „Aussterben“ bedroht. Deshalb hat der Religionsrat vor ca. 30 Jahren mit der Zustimmung von Mîrê Şêxa und Extîyarê Mergehê (Bavê Şêx) eine bis jetzt einmalige Erlaubnis befürwortet. Und zwar dieser Familie ist erlaubt worden mit einer anderen Gruppe zu heiraten, der Gruppe der Pîrê Hesnalka, die ihnen in den Aufgaben nahe steht. Diese Erlaubnis wurde bis heute jedoch von den Betroffenen nicht akzeptiert bzw. ist ignoriert worden.

Der derzeitige Wächter von Lalişa Nûranî und dem Grab von Şêx Adî ist ein Pîr. Dieser wird in seinem Amt Bavê Çawîş genannt und ist auch Mitglied des Religionsrates. Es gibt auch weibliche Dienerinnen am Grab von Şêx Adî. Sie werden Kabanî genannt. Das Amt dieser Diener am Heiligtum Lalişa Nuranî ist nicht erblich. Jeder kann das ehrenvolle Amt ausüben. Diejenigen, die das Amt ausüben, leben im Zölibat.

Nachfolgend habe ich die Namen, die Herrn Rêzan Hesen mir geschickt hat und die, die Dr. Khalil Jindy in seinem Buch: „An Approach to the Essence of Yezidian Religion“ erwähnt, alphabetisch zusammengefasst.

 

Pîrê Hesen memana

1

Pîr

Alî

 

37

Pîr

Kivanrut

2

Pîr

Alubekir

 

38

Pîr

Kuzan

3

Pîre

Axe

 

39

Pîr

Lexer

4

Pîr

Bazid

 

40

Pîr

Libina

5

Pîr

Beybun

 

41

Pîr

Mahmedî boz

6

Pîr

Boz

 

42

Pîr

Mahmedî reben

7

Pîr

Bual

 

43

Pîr

Mahmud

8

Pîr

Bub

 

44

Pîr

Mehemed reşan

9

Pîr

Çak

 

45

Pîr

Melîha

10

Pîr

Cerwan

 

46

Pîr

Memê şivan

11

Pîr

Daud (Xanî)

 

47

Pîr

Mend

12

Pîr

Daudî xerbende

 

48

Pîr

Mensor

13

Pîr

Delî

 

49

Pîr

Merwan

14

Pîr

Dir Cinan

 

50

Pîr

Meysor

15

Pîr

dirbes

 

51

Pîr

Micirmavan

16

Pîr

Drîs

 

52

Pîr

Mos

17

Pîr

Êzîd

 

53

Pîr

Musa

18

Pîra

Fat (Frau)

 

54

Pîr

Nerm

19

Pîr

Gavanê zerza

 

55

Pîrê

Omerxala

20

Pîr

Germ

 

56

Pîr

Qaraca

21

Pîr

Hacî al

 

57

Pîr

Qarqul

22

Pîr

Hacî Alî

 

58

Pîr

Qedî bilban

23

Pîr

Halan

 

59

Pîr

Qelener

24

Pîr

Hecî Mahmed

 

60

Pîrê

Reşî heyran

25

Pîr

Hejyal

 

61

Pîr

Rusî

26

Pîr

Hemali

 

62

Pîr

Şalyar

27

Pîr

Hemede babe

 

63

Pîr

Sehîd

28

Pîr

hesen

 

64

Pîr

Şîref

29

Pîr

Hesen pîrik

 

65

Pîr

Tercuman

30

Pîr

Hesin çinarî

 

66

Pîr

Tuz

31

Pîrê

Hesnalka

 

67

Pîr

Xeti Pisî (Botar)

32

Pîr

Ishak kurdî

 

68

Pîr

Xidir

33

Pîrê

İsibyan

 

69

Pîr

Xoşave

34

Pîr

Kal

 

70

Pîr

Zozanî

35

Pîr

Kemal

 

 

 

 

36

Pîr

Kerkerî

 

 

 

 

   

Nach diesen beiden Kasten kommt dann die Kaste der Mirîd (die Laien bzw. das Volk). Im Grunde genommen sind alle Êzîdî, auch die Şêx und Pîr, Mirîd, weil jeder Êzîdî einen Pîr und einen Şêx haben muss, aber die größte Gruppe unter den Religionsangehörigen wird Mirîd genannt, weil ihnen von Geburt her keine Priesteramt zusteht. Sie werden auch „Yeknav“ (Einnamige) genannt, wehrend die anderen „Dunav“ (Doppeltnamige) genannt werden. Ein Mirîd könnte Feqîr, Koçek, Micêwir und Qewwal werden, wenn er dazu geeignet ist.

Aufgrund der politischen Lage der Kurden, zu denen auch die Êzîdî gehören, und der Verfolgung der Êzîdî durch die staatlichen Behörden und muslimische Nachbarn konnten sie ihre religiösen Texte nicht verbreiten. Das hat dazu geführt, dass diese Kenntnisse meist in einigen wenigen Familien geblieben sind und nur Angehörige dieser Familien in der Lage waren die Aufgaben mancher Ämter, wie beispielsweise Feqîr, zu erfüllen. Dadurch hat sich ein erbliches System entwickelt, so dass meist der Sohn ein Feqir, Qewwal und Micêwir werden konnte, wenn sein Vater das Amt ausgeübt hat.        

Wie oben bereits erwähnt gibt es noch andere Gruppen in der ezidische Religion. Diese werden Feqîr, Qewwal, „Micêwir“ und „Koçek“ genannt. 

Feqîr sind diejenigen unter den Êzîdî, die der Eitelkeit dieser Welt entsagt und sich dem Dienste Gottes und seiner Schöpfung geweiht haben. Also, diejenigen, die sich für ein asketisches Leben entschieden haben. Ihre Aufgaben innerhalb der Gemeinschaft sehen sie darin die Probleme innerhalb ihrer Gemeinden abzuschaffen, z. B. ihnen Ratschläge zu erteilen und die religiösen Riten den Generationen weiter zu geben. Wegen ihrer Weisheit in beinahe allen Lebenssituationen und guten Kenntnissen der religiösen Inhalte werden sie von den Übrigen sehr geachtet. Sie werden bei allen beschwerlichen Lebensabschnitten um Rat gebeten, wenn z.B. jemand stirbt oder wenn Streitereien zwischen Personen und Familien ausbrechen. Sie sind immer in den Gemeinden unterwegs und gehen von Ort zu Ort um ihre Lehren und ihr Wissen weiterzugeben.

Ihre Tracht heißt Xirqa und wird aus reiner grobgewebter Schafwolle gemacht und mit einem Öl geweiht, das aus einem bestimmten Baum gewonnen wird unter bestimmten religiösen Zeremonien. Erst dann darf es getragen werden. Darunter dürfen sie nicht anderes anhaben. Sie tragen immer eine Kopfbedeckung, unter der „Kûlik“ (eine Art Mütze) getragen wird. Diese beiden Bekleidungsstücke sind bei Êzîdî sehr heilig. Die Feqîre dürfen ihren Bart nicht schneiden.

Bei den Êzîdî sind drei Fehler unverzeihlich (Todsünde), einer davon ist, wenn jemand einen Feqîr, der Xirqa an hat, gewalttätig angreift. 

Micêwir sind Wächter von Zîyarets (heilige Stätten), die überall in der Nähe von Dörfern liegen. Die Micêwir schneiden ihren Bart nicht und auch sie genießen ein hohes Ansehen. 

Qewwal gehören ebenfalls zu der Kaste der Mirîd und auch sie tragen eine bestimmte Amtstracht und dürfen ihren Bart nicht schneiden. Sie kennen alle Qewwl (religiöse Texte) auswendig, daher ihr Name. Sie tragen die heilige Statue „Taûs“ periodisch in die Dörfer und bringen den Dorfbewohnern die religiösen Instruktionen und erfahren von ihnen die Neuigkeiten in den Gemeinden und Siedlungsgebieten. Ihnen begleiten häufig auch Şêx und Feqîr, um bei dieser Angelegenheit die neugeborenen Kinder mit dem heiligen Wasser von Kanîya Sippî (weiße Quelle) zu taufen, das sie in ihren Behältern bei sich tragen, und gegebenenfalls schlichten sie die Streitereien innerhalb der Gemeinden und in den Dörfern. Kanîya Sippî ist eine heilige Quelle, die bei dem Heiligtum Laliş entspringt. Alle Êzîden müssen mit dem Wasser aus dieser Quelle getauft werden. Da es nicht jedem von ihnen möglich ist selber dorthin zu gehen, brachte man auf diese Weise das Wasser zu den Gläubigen.

Die Qewwal werden von den Gläubigen für ihre Mühe selbstverständlich entschädigt. Jeder, der es sich leisten kann, gibt ihnen freiwillig eine kleine Geldsumme. Die Feqîre und Şêx müssen ihre Zuwendungen mit niemandem teilen, während die Qewwal ihren Anteil mit dem Mîrê Şêxa teilen müssen, dem weltlichen Oberhaupt aller Êzîdî. Das Geld dient zur Erhaltung der Priesterschaft und Instandhaltung des Heiligtums Laliş.

Da die Qewwal eine wichtige Gruppe unter den Gläubigen sind, die eine sehr wichtige Aufgabe auf sich nehmen, werden sie auch in vier Gruppen unterschieden:

1. Mezine Qewwala (der Oberqewwal): Er ist für alle Qewwal zuständig. Er darf bestimmen, wer ein Qewwal werden darf und unterrichtet sie auch in ihren Pflichten und bringt ihnen die religiösen Texte bei. Er ist auch Mitglied des  Religionsrates.

2. Begê Sincaqê: Dieser ist für die heiligen „Sincaq“ (die heiligen Statuen Taus“) zuständig.

3. Serhosta: Diese kennen alle Qewwls auswendig und sie sind immer dabei, wenn die heiligen Statuen in die Dörfer getragen werden.

4. Nûfêr (Şagirt): Das ist die Gruppe von Schülern, die noch dabei sind Qewwal zu werden.  

Koçek sind die Auserwählten. Sie können hellsehen und die Zukunft voraussagen, geheime Zeichen richtig deuten usw.. Man glaubt, dass nur Unfehlbare solch eine Erleuchtung haben können. Jeder Êzîdî aus jeder Kaste, auch die Frauen; könnten diese Erleuchtung bekommen, wenn sie Gläubige sind und ihr Tun und Handeln unfehlbar ist. Da in unserer Zeit die Menschen immer egoistischer und habgieriger werden und es ihnen immer schwerer fällt diese Aufgaben zu erfüllen, gibt es dementsprechend auch immer weniger Êzîdî, die dieser Erleuchtung würdig sind. Deshalb gibt es in unserer Zeit auch wenige, die sich Koçek nennen dürfen.   

  Eine weitere sehr wichtige Institution ist die des Birayê axretê (Bruder fürs Jenseits) und die der Merebî. Jeder Êzîde muss einen Birayê axrete und eine Merebî haben. Das ist ein wichtiges Gebot für jeden Êzîdî.

 

 
 

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© Niviskar:  Ferhun Kurt 

 

Die chronologische Geschichte einer leiderprobten, kleinen Religionsgemeinschaft

 

 

 


Einfuehrung des Autors


Einleitung


Kapitel Eins


Kapitel Zwei


Kapitel Drei


Kapitel Vier


Anhang