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Kapitel Eins
Die Heiligen
Die Êzîden haben keine
Propheten, dafür aber eine Fülle von Şeqs û Wellî (Heiligen). Die
namentlich bekanntesten sind Şêx Adî, Pîr Alî auch Pîrê Alîya
genannt, Şerfedîn, Mîr Êzdînê sor Bavê Şemsanîya, Şebilkassim,
Xatuna Fexra u. v. m.
Şêx Adî und Pîr Alî gelten
als Erscheinung von Taus î Melek. Wobei im Gegensatz zu Şêx Adî,
die Erscheinung von Pîr Alî nicht bei allen Gläubigen einen
großen Stellenwert hat, sondern nur bei den Çêlka-Êzîden. Das
dürfte daran liegen, dass er nur in dem Wohngebiet erschien, das
ausschließlich von den Çêlka-Êzîden bewohnt war und deshalb die
Übrigen von ihm kein Kenntnis nehmen konnten. Aber bemerkenswert
ist es, dass Taus î Melek sowohl als Pîr als auch als Şêx
erschien.
Das Fest Batizmî ist Pîr Alî
gewidmet und es wird nur von den Çelka-Êzîden gefeiert. Aber die
Çêlka feiern dieses Fest nicht am gleichen Tag sondern
zeitversetzt mit der Begründung, dass Pîr Ali zu verschiedene
Zeiten in verschiedenen Orten war. Man weiß, dass es eine
Erscheinung vor Şêx Adî gewesen ist, aber eine genaue Datierung
wie bei Şêx Adî ist nicht möglich.
Die Legende wird so auch von
Christen des Tur Abdin erzählt. Ich persönlich habe die
Geschichte zum ersten Mal von einem Christen namens Hedê Gelac
aus Xerabê Alê im Jahre 1984 gehört. Mir ist diese Legende
mehrmals von Êzîden bestätit worden.
„Im Dorf Dêrdîl in der
Nähe von Mardin hinter Gercos arbeitete bei einem christlichen
Priester ein Hirte namens Alî. Es war Sommer und die Tiere
mussten normalerweise mehrmals täglich zur Wasserstelle gebracht
werden, damit sie ihren Durst stillen könnten, deshalb haben die
anderen Hirten aus dem Dorf dem Priester erzählt, dass sein Hirte
nichts tauge und dass er die armen Tiere nicht mal zu
Wasserstelle bringe damit sie ihren Durst stillen. Der Priester
hat ihnen zwar nicht geglaubt, weil er bereits gemerkt hatte,
dass es seinen Tieren wesentlich besser ging, und sie gesunder
und fetter waren, als die von den Leuten, die über seinen Hirten
lästerten, aber er ist misstrauisch geworden und wollte diesen
Gerüchten nachgehen. Deshalb hat er seinen Hirten heimlich
beschattet. Er hat beobachtet, wie die Tiere sich in einem Tal um
den Hirten versammelt haben, so dass er rings um von den Tieren
umgeben war, als ob sie ihn bewusst vor irgendetwas oder jemanden
schützen wollten. Danach hat der Hirte die Spitze seines Stockes
in die Erde gesteckt und das Wasser entsprang. Die Tiere konnten
an Ort und Stelle ihren Durst ungestört stillen. Nachdem alle
Tiere getrunken hatten, nahm er den Stock aus der Erde heraus und
das Wasser versiegte. Der christliche Priester hat sofort
begriffen, was das zu bedeuten habe. Nach dieser Beobachtung
wurde seine Neugier noch größer und er beobachtete den Hirten
weiter. Gegen Abend beim Sonnenuntergang hat Pîr Ali sich
Richtung Sonne gewandt und fing an zu beten.
Mehr Wundertaten, als er
bereits gesehen hatte, wollte der Christ nicht sehen. Er hat
begriffen, dass ihm ein Heiliger als Hirte diente und er verstand
darin seine eigene Prüfung. Er ging zu ihm und sprach ihn an und
erzählte, dass er ihn auf Grund falscher Beschuldigungen heimlich
beobachtet habe und bat ihm um Verzeihung. Der Christ bat ihm
seine Arbeit einzustellen und mit ihm zu seinem Volk zu gehen,
das in den nahe liegenden Dörfern wohnt. Beide Priester machten
sich auf dem Weg und gingen zusammen zu den Êzîden des Tur Abdin
Gebirges, wo der Christ ihn den Êzîden als ihren Heiligen
vorstellte. Nachdem er durch einige Wundertaten ihnen seine
Heiligkeit bewies, fingen sie an ihn zu feiern. Es heißt, er habe
eine geschlachtete und bereits ausgenommene Kuh wieder zum Leben
erweckt“. Das Fest wird alle Jahre wiederholt. (Siehe dazu
mehr auch in das Kapitel: die Feste).
Şêx Adî ben Mûsafir
stammte, den
Angaben nach, aus der Gegend von Baalbek in Syrien. Er ist
in einem Dorf Namens Beit Fâr, das heute in Libanon liegt,
geboren. Seine Eltern sind, den Angaben nach, einige Jahre zuvor
aus der Gegend von Hekkarî als Flüchtlinge dorthin gekommen. Er
ist später wieder in die bergige Region von Hekkarî
zurückgekehrt, was ihn den Beinamen Al Hekkarî brachte. Von da
aus ist er weiter nach Laliş gezogen und begann von Dort aus zu
wirken. Vermutlich wurde er nicht sofort von Êzîdî als ihren
Heiliger akzeptiert, sondern erst nach einer Reihe von Prüfungen
und nachdem er viele Wundertaten vollbracht habe, die nicht nur
die Êzîdî überzeugten, sondern auch beinahe alle Völker im alten
Orient beeindruckten – darunter auch die Muslime. Erst dann wurde
er als ihr Heiliger akzeptiert und seine Reformen angenommen. Er
ist vermutlich 90 Jahre alt geworden und hat nie geheiratet,
somit hat er auch keine direkten Nachkommen.
Seine vollbrachten Wundertaten
werden von den Êzîdî heute noch erzählt und die meisten von
ihnen, die in arabischer Schrift und Sprache niedergeschrieben
sind, sind zum Glück auch bis heute für die Nachwelt erhalten
geblieben. Einige davon sind im Jahre 1911 von Dr. Rudolf Frank
in Berlin unter den Namen “Scheich Adi, der grosse Heilige der
Jezîdîs“ ins Deutsche übersetz worden. Darin werden unter
anderem auch seine Wundertaten aufgelistet.
In dem Werk wird es auch
deutlicher, mit welcher Energie die muslimischen Feinde der Êzîdî
gegen sie vorgingen. Auch diese Schriften hatte man versucht zu
fälschen, in dem man überall, wo der Name „Adî bin Mûsafir“
geschrieben war, ihn ersetzte durch den Namen „Ahmed bin ar-
Rifâî“, Stifter des Ordens der heulenden Derwische. Dr. Rudolf
Frank vermutet zwei Gründe für diese Fälschung. Er schreibt dazu:
»die Fälschung sei
durch den Verkäufer gemacht worden, um durch den berühmteren
Namen des Ahmed bin ar- Rifâî leichter Käufer für das Buch zu
finden. Weit näher jedoch liegt die Annahme, daß der Name Adî von
einem Muslim verdeckt wurde, der an demselben Anstoß nahm, weil
er wußte, wie teuer der Name den Jezîdîs war.«
Mit anderen Worten, überall,
wo sie nur können, haben sie versucht gegen die Êzîdî zu kämpfen
und sie zu demütigen. Şêx Adî bin Mûsafir ist noch zu Lebzeiten
weltberühmt geworden, und er fand nicht nur unter seinen späteren
Anhängern Achtung und Verehrung, sondern auch teilweise unter
seine Gegnern.
So Ibn Hallikan (gestorben
1282) in seinem Kîtâb wafajât al-a`jân (Ausgabe von F.
Wüstenfeld, Göttingen 1835, No. 426):
»Scheich `Adî bin Musâfir,
al-Hekkârî gennant nach seinem Aufenthaltsort, der
Gottesverehrer, der Fromme, der Berühmte, nach welchem der `Adawîje-Orden
sich nennt. Es durchzog sein Ruf die fernsten Länder, und es
schlossen sich ihm viele Leute an. Ihr an sich löbliches
Vertrauen auf ihn hat alle Grenzen überschritten, so daß sie ihn
sogar zu ihrer Qibla gemacht haben, zu der sie sich beim Gebet
wenden, und zu ihrem Hort am jüngsten Tage, auf den sie sich
verlassen.«
Nachdem man überall, auch in
den entlegensten Gegenden, damit begann über ihn und seine
Wundertaten zu berichten und die islamische Welt sich dadurch in
ihrem Element bedroht fühlte, begannen sie in Scharen zu ihm zu
gehen, um ihn auf die Probe zu stellen, mit der Hoffnung ihn um
seinen Ruf zu bringen. Aber alle Delegationen kehrten selbst
gedemütigt wieder zurück. Das ging so weiter bis auch die
moslemischen Şêx eingestehen mussten, dass Adî bin Musâfir ein
unbestrittener Heiliger ist. So sein Zeitgenosse und Stifter der
Qadria Orden, Şêx Abd al-Qâdir al-Dschîlânî (gest. 561 / 1166 in
Bagdad) über ihn:
»Wenn die Prophetengabe
erlangt werden könnte durch Eifer für den Glauben, dann hätte
fürwahr Scheich `Adî ben Musâfir sie erlangt.«
Şêx Adî gilt nicht als der
Gründer von Êzîdî-Religion, sondern als Reformer dessen. Er hat
die alte ursprüngliche Religion der Êzîdî nur reformiert. Er wird
auch als Urheber für das heute noch gültige Kastensystem
gehalten. Das heute für die Gläubigen als Gebot geltende „Hed û
Sed“ (Recht und Ordnung) ist ebenfalls ihm zuzuschreiben. Es wird
zwar von den Êzîdî geltend gemacht, dass bereits bevor die Erde
und die Menschen erschaffen wurden auch zwischen Gott und Engeln
eine Art Kastensystem existierte. Auch zwischen Gott, dem
Allmächtigen und der Schöpfung - in diesem Falle die Engeln -
herrscht so etwas wie Hed û Sed, und dies war das Model für das
heute für die Êzîdî gültige Hed û Sed (Recht und Ordnung). Aber
Şêx Adî bin Musâfir hat dieses System verfestigt und hat bis dato
seine volle Gültigkeit bei den Gläubigen. Niemand von den
Gläubigen würde wagen daran etwas zu ändern, auch dann nicht wenn
sie dazu berechtigt wären.
Bis in unserer Zeit wird der
Versuch unternommen Şêx Adî als einen Araber darzustellen, „der
nach Hekkarî zog um auch die Letzten, die sich noch nicht zum
„wahren Relion, dem Islam“ bekennen, von der Wahrhaftigkeit des
Propheten Mohammed und dem Koran zu überzeugen“. Also, einen
islamischen Agenten, der gesandt würde um die anderen
Religionsangehörige, die man mit Hilfe von Schwertern nicht
bekehren bzw. unterwerfen konnte, zu unterwandern und sie so zu
bekehren. Aber hier wird gerne verschwiegen, warum ausgerechnet
er, der Agent selber sich von „ungläubigen Heiden“ bekehren ließ.
Daran wird deutlich, dass solche Propagandisten immer noch das
Ziel verfolgen die Êzîdî zu spalten und sie so zu vernichten. Sie
wissen, dass vieles, woran die Êzîdî heute glauben, mit dem Wesen
Adî bin Musâfir fest verankert ist, und wenn man es schafft sie
von ihm abzuwenden, dann werden sie dadurch dem Glauben der Êzîdî
nicht mehr loyal bleiben können und für eine Bekehrung
anfälliger.
Diese Propagandisten übersehen
die Tatsache, dass die Êzîdî mit dem Wesen Şêx Adî eins sind und
nichts und niemand sie trennen kann, weil sie unzertrennlich
sind. Die Êzîdî wissen, dass sie ihr heutiges Dasein nur ihm zu
verdanken haben. Ohne seiner Erscheinung und seine Reformen wäre
diese Religion in seiner früheren Form in solch einer
Feindseligen und untoleranten islamischen Welt nicht
existenzfähig. Er hat diese Religion noch rechtzeitig vor dem
Untergang bewahrt. Nur Abtrünnige hören solche Propagandisten zu
und schenken ihnen, im wahrsten Sinne des Wortes, ihren Glauben.
Wie auch Feqîr Xidir auf die
Frage sagte: »Ob er
ein Araber war oder auch nicht? Diese Frage interessiert uns
heute nicht. Wir wissen, dass er nur durch seine göttliche Macht
(Sir û Keramet) unsere Vorfahren von sich und seiner Heiligkeit
überzeugen könnte. Unsere Vorfahren haben ihn als ihren
akzeptiert und wir sehen keinen Grund, warum auch wir ihm nicht
folgen sollten. Darum werden wir ihm bis an unserem Lebensende
treu bleiben. «
An Şêx Adî wird jedes Jahr mit
einem großen Fest, bei seinem Grabe im Tall von Laliş, das im
Nordirak liegt, erinnert.
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