Kapitel Eins
Die Gebete
»Šamaš, der den
ganzen Himmel erleuchtet,
der von oben bis
unten das Dunkel verscheucht...
Dein Glanz umhüllt
die Erde wie ein Netz.
In die Finsternis der
fernsten Berge bringst du Licht...
Dein Strahlen
enthüllt und erhellt das noch so Verborgene.
Wenn dein Licht
aufleuchtet, wird man der Menschen Wandel gewahr.
Dein Gleißen bedeckt
die entlegensten Gebirge, ungestüm strahlst du über alle Länder.
Du bist über den
Gipfeln und überschaust die Erde.
Vom Himmel herab
hälst du den Länderkreis wie eine Waagschale.«
Aus der
akkadischen Literatur. Quelle: Barthel Hrouda (Der alte Orient)
Die Êzîdî glauben, dass Gott
noch zweiundsiebzig Völker (aus dem Geschlecht von Adam und Eva)
und achtzehntausend andere Lebewesen geschaffen hat. Danach
lebten auf der Erde einst dreiundsiebzig gleichberechtigte
Völker, die ihren Lebensraum mit achtzehntausend anderen
Kreaturen, Tieren und Insekten usw. teilten.
Noch heute betten sie für die
gesamte Schöpfung.
»Ya Rebê min tu li 72
Miletî,18 hezar Xulyaqetî bê rahmê û mejî teba!«
Übersetzung: O mein Herr, sei
72 Völker, 18 tausend Geschöpfe gnädig und uns mit ihnen!
Ein kurzes Zitat aus ezidische
Gebeten. Daran kann man es sehr deutlich erkennen, dass sie nicht
nur für sich selber beten, sondern für alle geschaffenen
Lebewesen, auch für die Tiere. Beachtenswert ist es, dass sie
sich selber erst am Ende der Aufzählung erwähnen, also ein
schönes Beispiel für Bescheidenheit und Toleranz.
Die Êzîden geben die Inhalte
ihrer Religion nur mündlich weiter. Diese Art gerät in unsererm
Zeitalter immer mehr in die Kritik. Die einen sagen, bedingt
durch die Flucht in die Diaspora werden die Priester nicht mehr
in der Lage sein, pflichtgemäß ihre Jünger in den ihnen wichtigen
religiösen Inhalten zu unterrichten. Deshalb werden auch aus den
Reihen derer, die ihre Heimat verlassen und die Hoffnung auf eine
baldige Rückkehr längst aufgegeben haben, immer mehr Stimmen
laut, die besagen, dass die Qewwls gesammelt und in einem Buch
niedergeschrieben werden müssen. Damit auch diejenigen ebenfalls
eine Chance haben ihren religiösen Pflichten nachzukommen, die
fern der Heimat leben. Auch der Oberhirte aller Êzîden, Mîrê Şêxa
Mîr Tahsin Beg, hat bei seinen zahlreichen Besuchen in
Deutschland mehrfach betont, dass auch er für die Niederschrift
aller Qewwls ist. Aber das wurde bis jetzt von der Mehrheit der
Êzîden abgelehnt, die immer noch Furcht vor Verfolgung und
Vertreibung haben. Die Gegner sind nicht bereit ihre Zustimmung
dafür zu geben, weil sie eben - nicht unbegründet - der Meinung
sind, dass die Zeit dafür noch nicht reif ist. Die Angst davor,
dass sie wieder Angriffsziel ihrer moslemischen Nachbarn werden,
ist immens groß.
Ich habe selbst erfahren,
wie strikt die Priester gegen eine Aufzeichnung der Qewwls sind.
Bis diese Schwelle überwunden ist, wird noch viel Zeit vergehen,
aber es ist auch unbedingt notwendig, dass darüber geredet und
auch dafür hoffentlich bald eine Lösung gefunden wird. Die
jüngere Generation erhebt bereits heute den Vorwurf, dass die
Priester ihren Pflichten entweder gar nicht und wenn überhaupt
nur dann nachkommen, wenn dabei für sie ein materieller Profit
herauskommt.
Ein anderer Grund ist die
Frage nach der Schrift. In welcher Schrift / Alphabet will und
soll man die Qewwls niederschreiben? Was auch noch wichtiger
scheint und ist: In welchem kurdischen Dialekt sollen sie
geschrieben werden? Es gibt auch einige Qewwls, die auch in
arabisch gesprochen werden. Sollen diese beim Originalen bleiben
oder sollen sie auch in das kurdische übersetzt werden? Wie
werden andere Religionen darauf reagieren, wenn zum Teil auch die
Inhalte ihrer Religionen dadurch berührt werden und dies in einer
Art, dass dadurch sich diese vielleicht verletzt fühlen? Wo
sollen diese Texte aufbewahrt werden? Denn die Êzîden haben bis
jetzt keine Gebetshäuser. Werden diese auch gebaut? Dann bedarf
man auch die Genehmigung von den jeweiligen Regierungen.
Wer bekommt die Aufsicht
darauf, um möglichst zu verhindern, dass alles sein Ziel nicht
verfehlt, sondern auch von den Gläubigen akzeptiert und geschützt
wird. Wie soll das bezahlt werden? Also, viele noch ungeklärte
Fragen, die auch große Probleme in sich verbergen. Aber eine
andere Gefahr ist die Tatsache, dass die Zahl derer, die alle
Qewwls auswendig kennen immer weniger wird und dass damit bald
keiner bzw. nur noch wenige in der Lage sein werden diese
Aufgaben zu erfüllen. Ganz bedrohlich sieht die Lage derer aus,
die bereits ihre Heimat verlassen haben. Gerade diese Gruppe hat
gesammelte und niedergeschriebene Texte bitter nötig. Sie
benötigen in der Zeit als Fremde in Diaspora mehr den je eine
Seelsorge und geistlichen Beistand um den Schmerz zu ertragen,
der ihnen durch den Verlust der Heimat zugefügt worden ist. Aber
die bereits gestellten Fragen und noch viele mehr müssen vorab
gründlich behandelt werden, ehe man sturzartig drauf stürmt und
alle Texte sammelt und niederschreibt.
Jeder gläubige Êzîde sollte
zweimal täglich, beim Sonnenaufgang und beim Sonnenuntergang
beten. Die Gebete werden im Stehen verrichtet, beim Beten blickt
man Richtung Sonne, da diese als Symbol Şeşems heilig ist. Man
wäscht vorher seine Hände und das Gesicht und betet stehend, den
Kopf leicht gesenkt, den Körper leicht vorgebeugt und Hände
übereinander. Die Handinnenflächen können beide nach oben
gerichtet oder zum Körper gewendet sein. Die Gebete finden
üblicherweise zuhause in einem Raum statt, wenn man aber
unterwegs ist, dann dort, wo man sich befindet. Die Gebete sind
nicht gleich, sondern sie unterscheiden sich inhaltlich
voneinander. Ein anderes Gebet ist die Şahda Dînî
(Glaubensbekenntnis), das wird vor dem Schlafengehen verrichtet.
Die Êzîden beten hauptsächlich zu Gott und Engeln. Wobei auch Şex
Adî als Vertreter von Taus î Melek dem enstprächend verehrt wird.
Die Êzîden haben viele
Qewwls, nur eine kleine Gruppe von Geistlichen kennt alle Qewwls
auswendig. Die Mehrheit der Êzîden ist nicht mal in der Lage die
drei Hauptgebete: Dûa Sibehê, Dûa Êvarê û Şahda Dînî
(Morgengebet, Abendsgebet und Glaubensbekenntnis) auswendig zu
sagen. Die Hauptursache hierfür ist sicherlich die ewige
Verfolgung, der sie fast ununterbrochen ausgesetzt waren und
sind. Dazu kommt erschwerend hinzu, dass durch die Teilung
Kurdistans sie auch von ihren höchsten Priestern getrennt wurden
und sie so keinen Kontakt mehr zu ihnen hatten. Es bleibt nur zu
hoffen, dass sich dieser Zustand durch die Niederschrift aller
Qewwls bald ändert.
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