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Kapitel Eins
Die heilige Stätte
Wie ich bereits erwähnt
habe, haben die Êzîden keine Gebetshäuser, wie es bei den Moslems
die Moschee, bei den Christen die Kirche und bei den Juden die
Synagoge ist, ausgenommen Lalişa Nûranî am Grab Şex Adîs im
Norden Iraks, aber sie haben heilige Orte oder Friedhöfe, die sie
„Zîyaret“ nennen. Fast jedes Dorf hat einen oder mehrere Zîyaret.
Ein Wächter (Micêwir) pflegt diese Orte und passt darauf auf,
damit niemand dort sein Unwesen treibt. Ein Zîyaret kann sich
über mehrere Quadratkilometer erstrecken. Innerhalb dieses
Gebietes darf niemand den Boden für Eigennutz bebauen und die
Bäume dürfen auch nicht beschädigt werden. Im Bereich dieser
heiligen Stätte war es geboten barfuss zu laufen. Viele religiöse
Zeremonien, die häufig von den angrenzenden Dörfern abgehalten
werden, sind diesen Zîyarets gewidmet. Manche von diesen heiligen
Stätten gelten auch anderen Religionen, Moslems, Christen und
Juden als heilig.
Obwohl noch alle älteren
Êzîden als ihren letzten Wunsch eine Beerdigung in einem dieser
Friedhöfe äußern, geraten die Zîyarets fern der Heimat, also in
der Diaspora, immer mehr in Vergessenheit. Die Jüngeren kennen
die Bedeutung von diesen heiligen Orten nicht, weil sie selber
noch nie dort gewesen sind, also keine Beziehung dazu haben. Auch
den Eltern fällt es immer schwerer ihnen die Bedeutung gebührend
zu erklären, dabei spielen auch die sprachlichen Probleme
zwischen Eltern und Kindern eine große Rolle. Man kann sagen,
dass die Jüngeren ihre Muttersprache nicht ausreichend
beherrschen, und ihnen fehlt auch gänzlich die Kenntnis über die
geografische Lage dieser Orte. Es wird nicht mehr lange dauern
bis auch die Letzten aufgehört haben die Feste, die diesen Orten
gewidmet sind, auch nur symbolisch zu feiern.
Hierzu ein Beispiel: Im Tur
Abdin wurden jedes Jahr im Frühling drei Xilmet (auch Cemayî
gennant) zum Ehren von Zîyarets gefeiert. Der erste wurde am
zweiten Freitag im Mai gefeiert und danach alle vierzehn Tage,
nur freitags, wurde Xilmet gefeiert.
Jeder Haushalt backte dazu
ungesäuertes Brot und kochte Savar, und wer sich leisten konnte
schlachtete ein Tier und wer es sich nicht leisten konnte, legte
nur Spiegeleier darauf. Jeder Haushalt trug das Brot und die
warme Mahlzeit in der Mittagzeit zum Dorfrand oder auch, wenn das
Zîyaret nah war dorthin. Alle legten ihre Teller und Schüsseln -
mit einer Unterbrechung von ca. ein Meter Raum zum Sitzen - der
Reihe nach auf dem Boden. So, dass sich eine Lange Kette von
Schüsseln und Tellern bildete. Wenn alle Familien ihre Essen und
Brote aufgestellt hatten, setzten sich alle Anwesenden so daran,
dass jeder nicht sein eigenes, sondern ein fremdes Gericht vor
sich hatte. Männer, Frauen, Kinder und auch Fremde, die nicht aus
dem Dorf stammten z. B. Reisende, die zufällig vorbeikamen,
wurden ebenfalls dazu eingeladen und sie aßen gemeinsam reichlich
mit Fleisch und Spiegeleiern belegtes Savar, das wiederum mit
Butter abgeschmeckt worden war, dazu das frisch gebackene,
köstlich schmeckende ungesäuerte Brot. Es war ein unbeschreiblich
schönes gemeinsames Festessen. Es wäre jammerschade, wenn solche
Feste in Vergessenheit geraten würden
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